Als die Herder-Schule 1872 als Sarres-Schule gegründet wurde, war die Einrichtung einer „Höheren Töchterschule“ keineswegs ein Novum in unserer Stadt. Bereits 1817 und 1828 war es zur Gründung zweier „Institute“ für Töchter gekommen.
„Institute“ – so wurden höhere Privatschulen damals genannt – gab es in Elberfeld schon seit 1804. Jungen und Mädchen wurden hier gemeinsam unterrichtet. Die „Institute“ waren in Konkurrenz zur kirchlich geprägten Lateinschule – später Gymnasium – entstanden. Die Gründung ging von unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräften aus, weil Gesellschaftsordnung und Schulverfassung nicht mehr übereinstimmten. Das Lehrangebot mit dem Hauptgewicht auf Religionsunterricht und alten Sprachen entsprach nicht mehr den Anforderungen einer aufstrebenden Handelsstadt unter dem Eindruck der frühen Industrialisierung. Unter dem Eindruck von Rousseaus Erziehungsroman „Emile“, der in Lesezirklen und Vortragsgesellschaften populär war, wurde die Forderung des „Zurück zur Natur“ pädagogischer Anstoß zur Gründung von Privatschulen mit neuen Lerninhalten. So verzichtete man auf die alten Sprachen und ersetzte sie durch Englisch und Französisch. Die Auseinandersetzung mit der sich ändernden Welt fand nicht mehr nur im Religionsunterricht statt, sondern die Realien, Fächer wie Mathematik, Naturwissenschaft, Technik und Geographie standen im Vordergrund.
Die einsetzende „Privatisierung“ des höheren Schulwesens entsprach besonders in Wuppertal der pietistisch, calvinistisch und durch Vereinstätigkeit geprägten Gesellschaft, die neben dem Armenwesen auch andere soziale Aufgaben von der staatlichen Obrigkeit übernahm. Die Gründung von privaten Mädchenschulen entsprach der Veränderung des Frauenbildes in der damaligen bürgerlichen Schicht. Deren gewerbliche und kaufmännische Orientierung bewirkte, dass die Frauen einerseits geringen Anteil am Berufsleben des Mannes hatten, andererseits aber den Freiraum zur selbstständigen Führung des Haushaltes, der Erziehung der Kinder und bei steigendem Wohlstand zu vielerlei geistiger Beschäftigung und Bildung gewannen. Der nachträgliche Erwerb von Schulabschlüssen sollte den Töchtern erspart bleiben, außerdem sollten sie auf ihre gesellschaftlichen Aufgaben in den großbürgerlichen Familien vorbereitet werden. Hinzu kamen sittliche Vorstellungen von der Trennung der Geschlechter im Schulwesen und anthropologische Denkweisen über die besondere, von der Natur vorgegebene Bestimmung des weiblichen Geschlechts in Familie und Lebensführung.
Die Mitte des 19.Jahrhunderts einsetzende Verstaatlichung der höheren Bildung für Mädchen ließ auf der anderen Seite wieder den Wunsch nach privater Erziehung und Bildung unter stärkerer Einflussnahme der Elternschaft auf die Schule aufkommen. Diesem gewachsenen Bedürfnis entsprach im Jahre 1872 die Neugründung einer privaten „Höheren Töchterschule“ durch die Geschwister Sarres, zweier Lehrerinnen, deren Vater ebenfalls Lehrer an der Elberfelder Realschule gewesen war. Zum Lehrangebot der neuen Schule gehörten – wie damals üblich – Religionsunterricht, Mathematik, Naturwissenschaften, Französisch, Englisch, Handarbeit, Musik und Tanz. Weiteren Zulauf erhielt die Schule durch den beginnenden Kulturkampf in der Folge der Gründung des Deutschen Reiches durch Bismarck im Jahr davor.
Bismarcks Katholikengesetze und die dadurch bewirkte Auflösung der kirchlichen Schulaufsicht und die Unterstellung der katholischen Schulen unter die staatliche Schulaufsicht, führten zu einer Abwanderung von Katholiken in ungebundene Privatschulen. 1922 übernahm Dr. Hans Borgs-Maciejewski die inzwischen 50 Jahre alte Mädchenschule, gleichzeitig gründete er im selben Jahr das nach dem Dichter der Klassik benannte Schiller-Pädagogium, eine höhere Schule für Jungen. Die Mädchenschule wurde nach dem Wegbereiter des Humanismus Johann Gottfried Herder umbenannt. Dr. Borgs-Maciejewski führte die Schule noch weitere 50 Jahre durch turbulente Zeiten. Von letzteren war in den zwanziger Jahren noch nichts zu spüren, denn das Privatschulwesen erlebte, abgesehen von Schwierigkeiten, pädagogisch eine Blütezeit. Die reformpädagogische Bewegung als praktische Pädagogik vom Kinde aus sorgte in Deutschland für eine Aufbruchsstimmung. Stellvertretend für diese Bewegung seien die Namen Kerschensteiner, Lietz, Montessori, Petersen und Steiner genannt. In Herder-Schule und Schiller-Pädagogium hatte sich der Wandel der Schule vom „öden Belehrungskäfig“ (Kerschensteiner) zur lebendigen Schule, welche die Selbstständigkeit des Kindes fördert, schon vollzogen. Die Schulen wurden Mitglied im Bund Entschiedener Schulreformer; Gilden (Arbeitsgemeinschaften) wurden eingerichtet, und es gab Freizeit- und Betreuungsangebote.
Diese Aufbruchszeit der Pädagogik wurde durch die Machtergreifung Hitlers 1933 und die Errichtung der NS- Diktatur jäh unterbrochen. Totalitäre Diktaturen dulden keine Gewaltenteilung, keine Menschenrechte und keine nicht von ihnen kontrollierten Institutionen und damit auch keine Privatschulen. Gleichzeitig begann aber für unsere Schule auch die Zeit der Bewährung für die eigene freiheitlich-humanistische Prägung. Ab 1937 sollten die jüdischen Kinder aus den Schulen entfernt werden. An Herder-Schule und Schiller-Pädagogium konnten sie so lange wie möglich bleiben, ohne ihr Wissen wurden sie mit christlicher Religionszugehörigkeit in den Schulannalen weitergeführt. Die Schulleitung warnte die Eltern jüdischer Kinder; in vielen Fällen empfahl man die Emigration oder zumindest den Aufenthalt der Kinder in ausländischen Internaten, vor allem in England. 1941 versuchte man auch in Einzelfällen, jüdischen Kindern das Untertauchen bei Privatpersonen oder in kirchlichen Einrichtungen zu ermöglichen.
Ab 1940 durften die Privatschulen keine neuen Schüler mehr aufnehmen. Nach dem damaligen Sprachgebrauch hieß das, sie wurden „abgebaut“. Das endgültige Verbot der Schulen durch die NS-Diktatur erfolgte 1943 fast gleichzeitig mit der Ausbombung und dem Totalverlust eines Schulgebäudes. Der Unterricht für die letzten etwa 50 Schüler war damit beendet. Dem Mut und dem Engagement der Pädagogen, der Elternschaft und Geldgebern ist es zu verdanken, dass die Herder-Schule nicht das Schicksal der anderen etwa 1000 Privatschulen erlitt, denen ein Neuanfang nach 1945 nicht mehr möglich war. Die Not der Nachkriegsjahre versuchte man durch die Einrichtung eines Tagesheims zu lindern. Hier erhielten die Kinder eine Mahlzeit. Schulaufgabenbetreuung, Spiel- und Freizeitstunden wurden im Bedarfsfall bis zum frühen Abend angeboten, Waisenkinder wohnten bei Verwandten, Mitschülern oder auch in Lehrerfamilien. Es gab Weihnachtsfeiern mit einer Bescherung in der Schule, weil die Familiensituation dies nicht zuließ.
In den sechziger Jahren wurde wieder die gemeinsame Erziehung von Jungen und Mädchen proklamiert. Im Rahmen der sogenannten Koedukation wurden die Jungen des Schiller-Pädagogiums in die Herder-Schule integriert, nach und nach liefen die letzten reinen Jungen- und Mädchenklassen aus. Ende der achtziger Jahre fand eine Rückbesinnung auf die reformpädagogischen Werte der Schule statt. Orientierung an der Pädagogik Maria Montessoris und die teilweise Übertragung der Montessori-Prinzipien auf die Sekundarstufe folgten, Einführung von Freiarbeit und Integration des nachmittäglichen Silentiums in das Ganztagsschulkonzept waren die nächsten Schritte.
Die Zukunft wird eine stärkere internationale Ausrichtung im Rahmen eines vereinten Europa mit sich bringen.